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Ganz Frau und ganz Mensch

„Die Kirche ist weiblich, es ist ein weiblicher Begriff. Man kann nicht Theologie ohne diese Weiblichkeit machen.“ Mit diesen Worten in einem Interview mit der römischen Tageszeitung „Il Messaggero“ sorgte Papst Franziskus 2014 nicht nur in weiten Teilen der Medienwelt für Wirbel. Im gleichen Interview, ein Jahr nach seiner Wahl zum Pontifex Maximus und Nachfolger des Apostels Petrus, beklagte er die Ausbeutung vor allem vieler junger Frauen und äußerte den Wunsch, in der Kirche eine profunde „Theologie der Frau“ zu entwickeln.

Die 1998 von Johannes Paul II. heiliggesprochene Sr. Teresia Benedicta vom Kreuz war 1922 zum katholischen Glauben konvertiert. 1891 in Breslau (Polen) als jüngstes von elf Kindern einer jüdischen Familie geboren, studierte Edith Stein nach dem Abitur zunächst Psychologie, Philosophie, Geschichte und Germanistik. Es folgten viele Jahre der wissenschaftlichen Arbeit in Göttingen und Freiburg. Bei Edmund Husserl promovierte sie 1916 als eine der ersten Frauen überhaupt in Philosophie. 1933 trat sie in den Kölner Karmel ein. Nach ihrer Verhaftung durch die Nationalsozialisten wurde sie am 9. August 1942 im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau ermordet. Die Erklärung zur Patronin Europas, zusammen mit den hll. Birgitta von Schweden und Katharina von Siena, erfolgte 1999.

Harmonie zwischen Leib und Seele

In einer phänomenologischen Analyse beschäftigte sich Edith Stein wissenschaftlich mit der Frage nach der „Eigenart“ und dem „Eigenwert“[1] der Frau und „gehörte damit zu den geisteswissenschaftlichen Wegbereitern … für bessere Bedingungen und Möglichkeiten der Frau im öffentlichen Leben.“[2] Gibt es so etwas wie ein „Wesen der Frau“? war für sie nicht weniger als die „Prinzipienfrage aller Frauenfragen“.[3] Als Philosophin suchte sie nach der natürlichen Grundlage für das Frau-Sein, die auch mit Hilfe der Vernunft des Glaubens erkannt werden könne. Den menschlichen Leib betrachtete Stein als Ausdrucksgestalt der Seele: Der Mensch ist Geist, und sein Äußeres ist „Sprache des Geistes oder sein volles Sein, das zum Sein spricht“.[4] Die Theologin und Edith-Stein-Expertin Prof. Dr. Katharina Westerhorstmann (seit 2020 Professorin an der „Franciscan University of Steubenville“ in Ohio, USA) schreibt: „Leib und Seele geben dabei nach ihrer Auffassung Auskunft nicht nur über ein Sein, sondern auch über eine Richtung des menschlichen Lebens, über Berufung und Auftrag. Das schließt auch den Aspekt eines naturhaft begründeten (spezifischen) Sollens mit ein, das sich sowohl auf das Menschsein als solches bezieht als auch auf die geschlechtliche Dimension des Daseins.“[5]

Edith Stein legte dar, dass es zum „Geschöpf als solchem“ dazugehöre, durch den Willen des Schöpfers bereits ein eigenes Sein zu haben, eine Substanz zu sein, das heißt „etwas, das es in sich selbst ist … Es ist ein in sich selbst Hineingesetztes und Begründetes, dem eigenes Sein und eigene Art zukommt (das eben besagt der Name ‚Substanz’) und [dem ebenfalls zukommt,] dass es seine Eigenart in einem ihm eigentümlichen Wirken betätigt. Speziell als Wirkendes wird es ‚Natur’ genannt.“[6]

„Die Frau ist weder Männin noch Menschin, sie ist Frau.“ (Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, Philosophin, Sprach- und Politikwissenschaftlerin)

Daraus folgt für jeden Menschen – Frau und Mann gleichermaßen –, dass seine Seele nicht einfach wie ein Kern im Leib „wohnt“ oder gar statisch ist, sondern sich zu ihm vielmehr wie dessen innere Form („forma corporis“) verhält. Die Seele macht uns erst zu Menschen, gleichzeitig ist sie Strukturprinzip des Leibes und drängt den ganzen Menschen in eine ganz bestimmte Richtung zur Entfaltung: „Alles, was der Mensch erkennt, alles, was ihm widerfährt, begegnet ihm nicht nur äußerlich, sondern hinterlässt einen Eindruck in seiner Seele. Zugleich ist der Leib sichtbare Gestalt und Ausdruck der Seele.“[7]

 Ausgehend von den Äußerungen der sichtbaren Gestalt des Leibes versuchte Edith Stein „vorsichtige Folgerungen auf ein weibliches ‚Innen’ zu ziehen.“[8] Wie in einer „doppelten Bewegung“ verhält sich der Leib zur Seele und die Seele zum Leib, so gelangt das, „was von außen begegnet, in das Innere und das, was sich innerlich bildet, verschafft sich durch den Leib wiederum einen Ausdruck nach außen.“[9] Die Realität der eigenen Leiblichkeit ist insofern keine Zufälligkeit oder Nebensache, sondern zielt direkt auf das Innere des Menschen ab. Das Innere des Menschen wiederum, seine Seele, ist nicht reine Möglichkeit, Unentschiedenheit oder Transexistenz, sondern untrennbar verwoben mit der Leiblichkeit desselben Menschen. Schließlich stehen sich Leib und Seele nicht wie zwei Pole, Gegensätze, Rivalen oder gar Feinde gegenüber, sondern stehen in einer wesenhaften und existentiellen Verbindung zueinander, in der stets Harmonie mitklingt und jene Sehnsucht nach Ganz-Sein und Erfüllung, die jeder Mensch als Individuum und Person in sich trägt.

Wesen und Berufung der Frau

Aus diesen grundlegenden Beobachtungen und Überlegungen zog Edith Stein konkrete Schlüsse über Wesen und Berufung der Frau auf der einen und des Mannes auf der anderen Seite. Als Christin mit jüdischen Wurzeln suchte sie ferner den Dialog mit der Heiligen Schrift. Aus dem biblischen Schöpfungsbericht (Gen 1,27) las sie drei ursprünglich gemeinsame Aufgaben für Mann und Frau heraus: „Gottes Ebenbild zu sein, Nachkommenschaft hervorzubringen und die Erde zu beherrschen“.[10] In Jesus Christus und Maria sah sie einen „neuen Adam“ und eine „neue Eva“, durch die das nach dem Sündenfall „verkehrte Verhältnis“ zwischen Mann und Frau wiederhergestellt, eine weitreichende „Erlösungsordnung“ und die Gottesebenbildlichkeit von Frau und Mann neu begründet wurde: „Erst die rein entfaltete männliche und weibliche Eigenart ergibt die höchste erreichbare Gottebenbildlichkeit und die stärkste Durchdringung des gesamten irdischen Lebens mit göttlichem Leben.“[11]

Daraus leitete Edith Stein schließlich Spezifika ab, die sie als „weibliche Eigenart“ bezeichnete. Unverkennbar war für sie, dass die Mutterschaft jene Aufgabe der Frau ist, die ihr Sein wesentlich bestimmt und das unterscheidende Merkmal gegenüber dem Sein des Mannes darstellt: „Die Aufgabe, ein werdendes und wachsendes Lebewesen in sich aufzunehmen, zu bergen und zu nähren, bedingt eine gewisse Beschließung in sich selbst, und der geheimnisvolle Prozess der Bildung eines neuen Geschöpfes im mütterlichen Organismus ist eine so intime Einheit von Seelischem und Leiblichem, dass man wohl versteht, dass diese Einheit zum Gepräge der gesamten weiblichen Natur gehört“.[12] Deshalb, so Stein, zeichne sich die Frau wesentlich durch einen „natürlichen Drang nach Ganzheit und Geschlossenheit“[13] und die „Einstellung auf das Lebendig-Persönliche“[14] aus. Sie sei besonders geprägt durch ihre „natürliche Einfühlungsgabe in fremdes Wesen und fremde Bedürfnisse“.[15]

„Unter den Grundwerten, die mit dem konkreten Leben der Frau verbunden sind ist jener zu erwähnen, den man ihre ‚Fähigkeit für den anderen‘ genannt hat.“ (Benedikt XVI.)

In Verbindung mit der Rolle und Aufgabe Marias für Kirche und Menschheit wird hier der Horizont frei für eine weitere Dimension des Frau-Seins: die geistige Mutterschaft. Denn laut Stein fand die leibliche Mutterschaft in Maria nicht nur ihre „Verklärung“, sondern auch ihre „Überwindung“.[16] „Geistige Mutterschaft“ bedeutete für sie insbesondere die „Gewinnung und Bildung“ der menschlichen Seele. Zum Frau-Sein gehörten für Edith Stein deshalb die besondere Art auf Personen und Werte gerichtet zu sein und somit die Verantwortung für Beziehungsbildung und Kultur im Allgemeinen.

Einfluss und Entfaltung

Bei all dem blieb Edith Stein der komplexen Realität menschlicher Existenz und Individualität gewahr. Die „Eigenart“ der Frau war für sie keine Schablone und die Beschreibung dieser erfolgte ohne Überhöhung oder enge Idealisierung. Stein machte deutlich, dass individuelle Anlage, Bildung und geistige Entfaltung diese „Eigenart“ im Leben in unterschiedlicher Weise prägen. Das Frau-Sein sei im Individuum im „zeitlichen Prozess“, sodass die Entfaltung nicht eindeutig festgelegt sei und schon gar nicht von Beginn an fertig vorliege. Sie hänge von „verschiedenen variablen Faktoren“ ab, „u. a. von der Freiheit des Menschen, die ihm gestattet, an seiner eigenen Bildung und der anderer zu arbeiten.“[17]Durch ihr Tun bestimme jede Person außerdem ihr Sein mit, sie entwickle ihre Potenziale oder lasse sie verkümmern, und entscheide mit ihrem Verhalten über den eigenen Standpunkt als Individuum gegenüber dem Ganzen der „Wertewelt“.[18]

Perspektiven für Kirche und Gesellschaft

Edith Stein stellte den ganzen Menschen in den Vordergrund ihrer Forschung und ihres Denkens. Ihr gelang es, interdisziplinär wissenschaftlich und kulturell und zeitgeschichtlich sensibel wesentliche Zusammenhänge menschlicher Existenz und Identität in den Blick zu nehmen. Gleichzeitig wob sie integrativ und evolutionär die tradierte christliche Sicht auf den Menschen in ihre Überlegungen und Schlussfolgerungen ein. Daraus erwuchs u.a. eine komplementäre Sicht auf das Frau- bzw. Mann-Sein. Die Ergebnisse ihrer wissenschaftlichen Untersuchungen erscheinen deshalb auch perspektivisch für ein vertieftes Verständnis der jeweiligen Eigenarten am Horizont der damit bis heute verbundenen Fragen in Kirche und Gesellschaft.

Und was dachte Edith Stein über das Priestertum der Frau? Phänomenologisch konsequent führte sie das katholische Priestertum auf Jesus Christus zurück: „Dass Christus als Menschensohn auf die Erde kam, dass darum das erste Geschöpf auf Erden, das in einem ausgezeichneten Sinn nach Gottes Bild geschaffen wurde, ein Mann war – das scheint mir darauf hinzuweisen, dass er zu seinen amtlichen Stellvertretern nur Männer einsetzen wollte.“[19] Während der Mann als Priester durch das Amt quasi nach „außen“ gesendet sei, stütze die Frau hingegen die Kirche von „innen“, stünde sie im „Herzen der Kirche“, direkt an der „Seite des Herrn“. Darin sah sie sogar einen „besonderen Gnadenvorzug“ gegenüber dem Priester. Alle „Macht in seinem Reich“ käme der Frau nämlich „aus der liebenden Vereinigung mit ihm“ zu und „nicht durch übertragene Amtsgewalt“.[20]

„Liebe ist Leben in der höchsten Vollendung: Sein, das sich ewig hingibt, ohne eine Verminderung zu erfahren, unendliche Fruchtbarkeit.“ (Edith Stein, in „Endliches und ewiges Sein. Versuch eines Aufstiegs zum Sinn des Seins“, 1935 – 1937)

Nach Meinung der Theologin Mary Rice Hasson[21] geht es bei der Frauenfrage in Kirche und Gesellschaft letztlich „nicht darum zusammenzurechnen, wie viele Frauen wo sind und auf welcher Ebene im Vergleich zu einer anderen Ebene, die Frage ist: Haben wir Frauen vollkommen integriert, damit wir auch die Komplementarität so leben, wie Gott es möchte?“[22] Verwunderlich ist vor diesem Hintergrund, warum gerade in der innerkirchlichen Debatte über die Rolle der Frau die Untersuchungen von Edith Stein kaum rezipiert bzw. integriert scheinen. Es ist zu hoffen, dass sie im Sinne der von Franziskus gewünschten „Theologie der Frau“ wiederentdeckt werden.

Karl-Olaf Bergmann

► Mehr zum Thema: Lesen Sie unseren Artikel „Verschiedene Perspektiven“sieben Statements von sieben Frauen über Gott, ihren Glauben und Frau-Sein in der katholischen Kirche!


[1] Vgl. Stein Edith, „Der Aufbau der menschlichen Person. Vorlesung zu philosophischen Anthropologie“, Edith Stein Gesamtausgabe (ESGA), Band 14, Herder Verlag, Freiburg/Breisgau, 2004, S. 140.
[2] Düren Sabine, „Die Frau im Spannungsfeld von Emanzipation und Glaube. Eine Untersuchung zu theologisch-anthropologischen Aussagen über das Wesen der Frau in der deutschsprachigen Literatur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung von Edith Stein, Sigrid Undset, Gertrud von le Fort und Ilse von Stach“, Susanne Roderer, Regensburg (1998), S. 18.
[3] Vgl. Stein Edith, „Probleme der neueren Mädchenbildung“, ESGA 13, Herder Verlag, Freiburg/Breisgau, 2004, S. 127-208, 152.
[4] Stein Edith, „Aufbau der menschlichen Person“, ESGA 14, Herder Verlag, Freiburg/Breisgau, 2004, S. 46.
[5] Westerhorstmann Katharina, „Bestimmung und Berufung der Frau nach Edith Stein“, in „Imago Hominis“, 2006, 13(2), S. 123-135.
[6] Stein Edith, „Was ist der Mensch? Theologische Anthropologie“, 1933, ESGA 15, Herder Verlag, Freiburg/Breisgau, 2005, S. 28.
[7] Westerhorstmann Katharina, ebd.
[8] Gerl-Falkovitz Hanna-Barbara, „Unerbittliches Licht. Edith Stein – Philosophie, Mystik, Leben“, Matthias-Grünewald-Verlag, Mainz, 1991, S. 65.
[9] Westerhorstmann Katharina, ebd.
[10] Stein Edith, „Beruf des Mannes und der Frau nach Natur-und Gnadenordnung“, ESGA 13, Herder Verlag, Freiburg/Breisgau, 2000, S. 58.
[11] Stein Edith, „Das Ethos der Frauenberufe“, ESGA 13, Herder Verlag, Freiburg/Breisgau, 2000, S. 29.
[12] Stein Edith, „Christliches Frauenleben“, ESGA 13, Herder Verlag, Freiburg/Breisgau, 2000, S. 86.
[13] Stein Edith, „Der Eigenwert der Frau in seiner Bedeutung für das Leben des Volkes“, ESGA 13, Herder Verlag, Freiburg/Breisgau, 2000, S. 4.
[14] Stein Edith, „Der Eigenwert der Frau in seiner Bedeutung für das Leben des Volkes“, ESGA 13, Herder Verlag, Freiburg/Breisgau, 2000, S. 13.
[15] Stein Edith, „Die Bestimmung der Frau“, ESGA 13, Herder Verlag, Freiburg/Breisgau, 2000, S. 49.
[16] Siehe dazu auch: Joseph Kardinal Ratzinger, in „Schreiben an die Bischöfe der Katholischen Kirche über die Zusammenarbeit von Mann und Frau in der Kirche und in der Welt“, Hrsg. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, 2004, Nr. 13: „Auch wenn die Mutterschaft eine zentrale Bedeutung für die weibliche Identität hat, ist es aber nicht richtig, die Frau nur unter dem Aspekt der biologischen Fortpflanzung zu sehen. In dieser Hinsicht kann es schwerwiegende Übertreibungen geben, welche die biologische Fruchtbarkeit mit vitalistischen Ausdrücken verherrlichen und oft mit einer gefährlichen Abwertung der Frau verbunden sind.“
[17] Stein Edith, „Probleme der neueren Mädchenbildung“, ESGA 13, Herder Verlag, Freiburg/Breisgau, 2000, S. 163.
[18] Vgl. Stein Edith, „Untersuchung über den Staat“, in: Jahrbuch für Philosophie und Phänomenologische Forschung 7, Halle a. S., 1925, S. 1-123.
[19] Stein Edith, „Christliches Frauenleben“, ESGA 13, Herder Verlag, Freiburg/Breisgau, 2000, S. 110.
[20] Ebd.
[21] US-amerikanische Theologin und Autorin, Direktorin des „Catholic Women’s Forum“, gehörte zu Hauptreferentinnen für den Heiligen Stuhl während der Kommission der Vereinten Nationen zum Status der Frauen 2017, 2018 und 2019.
[22] Hasson Mary Rice, zitiert auf CNA.deutsch, in „Wir brauchen keine Frauenquote in der Kirche: Neue Wege zu einer Theologie der Frau“, 2. Januar 2016. Hasson ist Herausgeberin des Buches: „Promise and Challenge: Catholic Women Reflect on Feminism, Complementarity, and the Church” (nicht auf Deutsch erhältlich), Verlag „Our Sunday Visitor”, 2015.