Online-Magazin des Regnum Christi und der Legionäre Christi

Den Fokus verschieben

Es gibt nur wenige Bücher, die ich mehr als einmal lese. „Warum Männer nicht zum Gottesdienst gehen“ von David Murrow gehört dazu. Fazit des ersten Teils des Buches: Männer gehen nicht in die Kirche, weil ihr Mannsein dort schon seit Jahrzehnten nicht mehr gebraucht wird. Komisch, da doch Jesus gerade Männer aussuchte, die er zu Aposteln und Verkündern machte und dann geradewegs in die Welt schickte – von denen nicht wenige als Märtyrer endeten. Viele Jahre schon beobachte ich und mache ich mir Gedanken darüber, wie die Gemeinden in Deutschland wieder an Bedeutung gewinnen können; wie die vielen Menschen, die den Zugang zur Kirche verloren haben, dort wieder etwas finden, was sie suchen und brauchen. Wie Neuevangelisierung gelingen kann. Und ich denke Männer sind dazu einer der Schlüssel!

Der katholische Pfarrer Michael White aus Baltimore machte sich nach vielen frustrierenden Erfahrungen in seiner Pfarrei eines Tages mit einem Mitarbeiter auf den Weg, um bei „erfolgreichen“ Gemeinden „zu lernen“. Was sie dabei fanden, überraschte und faszinierte die beiden – es war so ganz anders als in ihrer Gemeinde. Sie entdeckten einige Grundprinzipien, auf denen diese wachsenden Gemeinden aufbauten. Pfarrer White versuchte, diese Prinzipien in seiner Pfarrei umzusetzen. Und siehe, nach großen anfänglichen Schwierigkeiten, begann sich die Pfarrei zu verändern, zu wachsen, und nach und nach brachten sich mehr Menschen ein und reifen im Glauben. Im Blick auf die Neuevangelisierung unseres Landes, unserer Kirche und unserer Gemeinden stelle ich in den nächsten zwei Artikeln sechs Prinzipien vor, die auch Gemeinden in Deutschland grundlegende Impulse geben und so einiges verändern könnten.

Auf welchen Grundprinzipien stehen die wachsenden und lebendigen Gemeinden, sowohl freikirchlicher als auch katholischer oder evangelischer Gruppen?

  1. Zielgruppe: Menschen, die nicht (mehr) zur Kirche gehen.
  2. Ansprache und Ausrichtung: Männer im Berufsleben.
  3. Musik: Qualitativ hochwertige Musik, die sich an der Zielgruppe orientiert.
  4. Predigt: Relevant, lebensnah, konkret und zielgruppenorientiert.
  5. Umgang: Freudige und herzliche Willkommenskultur.
  6. Verbindlichkeit und Wachsen im Glauben: Arbeit mit Kleingruppe

Der entscheidende „cultural change“, wie Pfarrer Michael White es bei einem Vortrag in Frankfurt nannte (der Schalter im Kopf, der umgelegt werden muss), besteht darin, den Fokus der Pfarrei radikal zu verschieben. Es geht – nach dem Sendungsauftrag Jesu – nicht darum, die Menschen zu bedienen, die schon da sind, sondern die Menschen zu seinen Jüngern zu machen, die noch nicht da sind.

„Macht alle Menschen zu meinen Jüngern…“
(Mt 28,19)

Einer Gemeinde muss es immer und vor allem darum gehen, die zu erreichen, die den Bezug zur Kirche verloren haben. Um sie zu erreichen, muss man wissen, wo sie sind, wie sie ticken, warum sie nicht kommen. Eine Gemeinde in Chicago (USA) machte dazu einfach eine Umfrage. Gemeindemitglieder gingen in einem Stadtteil mehrere Tage von Tür zu Tür und fragten Leute, ob sie zum Gottesdienst gehen oder nicht. Denen, die „Ja“ sagten, wünschten sie einen schönen Tag und gingen zur nächsten Tür. Mit denen aber, die „Nein“ sagten und eben nicht in die Kirche gingen, begannen sie ein Gespräch – mit folgenden Fragen: „Warum gehen Sie nicht zur Kirche?“ „Was müsste sich ändern, damit Sie gehen würden?“ „Was können wir für Sie tun?“ Die Antworten waren aufschlussreich und sprachen für sich. Die Umfrage in Amerika lässt sich bzgl. der Antworten fast eins zu eins auf den deutschsprachigen Raum übertragen. Einige Jugendliche und ich haben in Deutschland eine ähnliche Umfrage gestartet und bekamen fast dieselben Antworten:

  • „Das bringt mir nichts.“
  • „Glaube ist etwas für schwache oder alte Menschen, die das für ihr Leben brauchen, ich brauche das nicht.“
  • „Ich verstehe das meiste nicht, die reden da so geschwollen.
  • „Die Predigt ist langweilig und für meinen Alltag bedeutungslos.“
  • „Die Musik spricht mich überhaupt nicht an.“
  • „Sonntag ist der einzige Tag, wo ich ausschlafen kann.“
  • „Sonntag ist unser Familientag, da habe ich Wichtigeres zu tun, als in die Kirche zu gehen.“

Im Durchschnitt besuchen vier bis zehn Prozent der bereits Getaufen eine Gemeinde oder Pfarrei in Deutschland. Das wirft mindestens zwei Fragen auf: Wo sind die anderen 90 bis 96 Prozent der Getauften? Wo sind die, die noch nicht getauft sind? Der Sendungsauftrag Jesu lautete: „Macht alle Menschen zu meinen Jüngern.“ Interessanterweise definierten alle wachsenden Gemeinden früher oder später ihre Zielgruppe neu und nahmen vor allem jene in den Blick, die kirchenfern sind, oder solche, die den Bezug zur Kirche verloren haben. Das ist eine komplette Neuausrichtung, ein echter „Kulturwandel“, der in den Köpfen von Pfarrer, Leitungsgremien und Gläubigen vor sich gehen muss. Pfarrer White kommentiert nüchtern: „Früher war meine Gemeinde eine Kirche von Konsumenten. Je mehr wir uns angestrengt haben, etwas für sie auf die Beine zu stellen, desto fordernder wurden sie.“ Irgendwann machte er dieses Spiel nicht mehr mit. Im Gebet und durch die Erfahrung war in ihm ein Entschluss gereift: Jesus habe, so schreibt er, seinen Jüngern und damit der Kirche drei Aufträge gegeben: „Folgt mir nach!“ (Werdet meine Jünger!); „Macht andere zu meinen Jüngern!“; „Lehrt sie, als Jünger und Christen zu leben!“ (vgl. Mt 28,18­20). Die Hauptaufgabe einer Pfarrei sei also, so Pfarrer White, nicht, nur die (als Kinder) Getauften zu „nähren“, sondern die Menschen, die Jesus noch nicht kennen oder ihm nicht (mehr) folgen, zu seinen Jüngern zu machen. Dieser Klick im Kopf, dieser Kulturwandel – konsequent gelebt –, verändert buchstäblich alles. Wie müssten Gemeinde und Gottesdienst sein, damit sich ein „Fremder“, kirchlich nicht (mehr) sozialisierter Mensch dort angesprochen fühlt und etwas Positives erlebt? Das ist eine entscheidende Frage und für manche Pfarrei fast eine „auf Leben und Tod“. Zu Überlegen wäre dann auch nicht mehr, welche Art von Musik der Chorleiter gerne mag; oder welche theologischen Themen dem Priester für die Predigt liegen oder wer wo in der Kirche sitzt. Zu überlegen wäre stattdessen: Wie können wir den „verlorenen Schafen“ einen Zugang ermöglichen, der sie nicht abschreckt, sondern willkommen heißt? Und was können wir als Gemeinde tun, um mit solchen Menschen in Kontakt zu kommen und sie einzuladen?

Noch mehr Fokus – die Männer

Das zweite Prinzip lautet: „Männer“. Allen wachsenden Gemeinden wurde bewusst: „Wenn wir die Männer ansprechen können, kommt leichter die ganze Familie“. Wir kennen das Phänomen, dass Fragen des Glaubens in der Familie oft an die Frau bzw. Mutter „delegiert“ werden. Sie motiviert zum Kirchgang. Sie lädt zum Gebet in der Familie ein. Sie kümmert sich um die Erstkommunionvorbereitung. Sie beginnt das Tischgebet usw. Aus der Sozialforschung weiß man aber, dass die Kinder den Glauben besonders beständig leben, deren Väter in diesem Bereich Vorbild sind. Etwa 80 Prozent der Jungen, deren Väter nicht den Glauben praktizierten, hören selbst damit auf. Aber ca. 65 Prozent der Jungen, deren Väter praktizierten, lebt später den Glauben selber. „Männer ansprechen“ bedeutet nicht, dass eine Gemeinde sich nicht um Frauen kümmert. Es bedeutet, der Grundausrichtung einen Fokus zu geben. Und der zeigt sich, wenn wir konsistent bleiben, überall: Design der Flyer, Art der Musik, Einrichtung des Pfarrsaals, Art der Veranstaltungen, Wortwahl und Thematik der Predigt, Auswahl der Liedtexte…

Im anfangs erwähnten Buch („Warum Männern nicht in die Kirche gehen“) bringt David Murrow viele Umfragen, Zahlen und Humorvolles oder Nachdenkliches zum Thema. Sein Fazit: die heutige Gemeinde hat die Männer verloren. Männer und Gemeinde passen heute nicht zusammen. Das ist ein viel größeres Problem, als wir denken. Vielleicht das entscheidende Problem. Wenn wir Neuevangelisierung wollen, müssen wir fähig werden, der Kirche fernstehende Männer anzusprechen, die mitten in Beruf und Leben stehen. Herausfordernd. Jesus hat es getan. Es ist möglich. Aber dazu ist ein Kulturwandel nötig.

„Die Predigt bringt mir nichts“ – wenn Worte wieder relevant werden

Diese neue Sicht – doppelte Ausrichtung auf Zielgruppe und Ansprache: Kirchenferne und Männer – bringt sofort einen entscheidenden Wandel mit sich: Art und Inhalt der Predigt ändern sich. Die meisten Menschen, auch die, welche die Jugendlichen und ich befragt hatten, sagten, dass ihnen die Predigt oft „nichts bringt“, dass sie „langweilig ist“. Das, worüber der Priester spricht, ist für viele Menschen (besonders für Männer) und ihr Alltagsleben, das sich zwischen Arbeit, Familie, Ehe, Karriere, Kindern und minimaler Freizeit abspielt, irrelevant. Wollen wir aber Menschen außerhalb der Kirchenmauern ansprechen, muss das, was wir tun und sagen, relevant sein – auf jeden Fall! Daher das dritte Prinzip: relevante Predigten. Das bedeutet wiederum nicht Anbiederung an Zeitgeist oder puren Humanismus. Es bedeutet vielmehr „Menschwerdung“ des Wortes Gottes. Als die Menschen Jesus damals hörten, staunten sie und sagten: „Noch nie hat jemand so gesprochen“. Wie? Worüber? Über Gott, den Vater. Über Vertrauen. Über den engen Weg, über die Welt der Menschen von damals (die Vögel, die Drachme, die Schafe, das Wasser, die Vergebung etc.). Mit Klarheit, Güte, Autorität, herausfordernd. In welcher Welt leben die Menschen heute: Computer, Smartphone, Leistungsdruck, Arbeit, Erziehung, Mobbing, Sinnlosigkeit, Scheidung, Heimweh nach Wirklichkeit, mediale Welt, immer mehr, schneller, höher, weiter, billiger…

Tiefe Predigten, solide und ohne Abstriche, mit Gott im Mittelpunkt, in einfacher Sprache ohne jeden theologischen oder intellektualisierten Jargon, mitten hinein in das Leben, mit klarer Botschaft und einfacher Umsetzungsmöglichkeit, relevant auch für Männer. Das ist schwer. Das ist notwendig. Meine Beobachtung: Nutze ich in einer Predigt auch nur drei Ausdrücke, mit denen die Menschen vor mir nichts anfangen können, gehen sie verloren, sind sie gedanklich nicht mehr dabei. Wir haben sie verloren. Die „verlorenen Schafe“ gehen uns verloren, wenn die Predigt nicht relevant oder wenn sie „abgehoben“ ist. Und sie könnten einen Zugang finden, wenn sie sich in den Worten des Priesters wiederfinden, erkennen, etwas mit nach Hause nehmen, was ihnen hilft, ihren konkreten Alltag besser zu bewältigen – als Jünger Jesu zu leben. Wenn wir heute die Menschen erreichen wollen, müssen wir einen ernsthaften Weg gehen. Das ist Aufgabe und Herausforderung, die uns Gott zutraut. Es ist möglich. Lernen wir von anderen und lassen wir zu, dass Gott seine Gemeinden wieder lebendig macht und erneuert.

Rebuild – Ein besonderes Gottesdienstprojekt in Köln

Mit den Gottesdiensten der „Rebuild“ – Reihe hat Pater Klaus Einsle LC mit einer Gruppe Jugendlicher und junger Erwachsener in Köln den Versuch gestartet, einige der Ratschläge von Pfarrer Michael White für die Ansprache kirchenferner Menschen in die Tat umzusetzen. Kennzeichen von „Rebuild“ sind neben der mitreißenden Lobpreismusik, die live von jungen Leuten gespielt wird, die mehrteiligen Predigtreihen mit Themen wie „Heimweh nach der Wirklichkeit“. Darin betrachtet Pater Klaus ab 7. Oktober 2018 an drei Sonntagen, welchen Stellenwert Schönheit, Echtheit und Freiheit im Leben des Menschen haben. Nach jedem Gottesdienst gibt die Einladung in geselliger Runde, bei Snacks und Getränken miteinander ins Gespräch zu kommen.

Wer jetzt neugierig geworden ist auf diese besonderen Gottesdienste und im  Großraum Köln wohnt, der ist an jedem ersten Sonntag im Monat sehr herzlich eingeladen! Die „Rebuild“-Gottesdienste finden in der Kapelle der Ordensschwestern „Mägde Mariens“  im Kölner Stadtteil Junkersdorf statt.