Online-Magazin des Regnum Christi und der Legionäre Christi

Wie sieht die Zukunft der Kirche aus?

Der Regisseur Sönke Wortmann begleitete die deutsche Fußball-nationalmannschaft 2006 bei der Weltmeisterschaft in Deutschland aus der Nähe. Daraus entstand der inspirierende Kino-Dokumentarfilm „Deutschland. Ein Sommermärchen“. Eine Szene dieses Films ist für mich besonders faszinierend: Die Ansprache von Jürgen Klinsmann in der Kabine vor dem Viertelfinalspiel gegen Argentinien. Mit welcher Kraft, mit welcher Lebendigkeit und Klarheit der Trainer da ein Bild vermittelt, das eine riesen Leidenschaft in den Spielern auslöst. Sie gehen aus der Kabine und besiegen Argentinien mit 4:2. Klinsi hat den Stars eine Vision vermittelt, könnte man sagen. Und diese füllte sie mit Leidenschaft und Energie.

Auch die Neuevangelisierung bedarf einer neuen Vision. Davon bin ich überzeugt und sehe es immer wieder. Wo Menschen eine klare Vision haben und diese beständig umsetzen, da wächst und blüht in der Kirche etwas. Nun kann man gut darüber streiten, was eine Vision ist. Im Bereich der Unternehmerwelt ist das Wort vielfach interpretiert worden. Mir gefällt die Definition eines Leiters einer wachsenden amerikanischen Kirchengemeinde am besten. Die hilft mir sehr und davon wollen wir heute sprechen. Ich bin überzeugt, dass Neuevangelisierung in dem Maß möglich ist, wie wir eine Vision davon haben, erneuern und schärfen. Und wenn Neuevangelisierung Kraft freisetzt und von Gott gesegnet ist.  Es lohnt sich, obige Definition von „Vision“ Wort für Wort zu betrachten. Was stellen wir uns vor, wenn wir an „neu evangelisierte“ Christen, eine evangelisierende Gemeinde,  Evangelisierung allgemein denken? Haben wir ein Bild davon? Ein klares Bild? Ein nebliges, undeutliches? Oder gar keines?

Diesen Sommer verbrachte ich zwei Monate in Mexiko, wo ich an einer Erneuerungszeit für Priester meiner Ordensgemeinschaft teilnahm. Zweimal bestieg ich mit den Mitbrüdern einen Berg, den Iztaccíhuatl. Der Sage nach ist der Berg eine Frau, die gestorben ist, weil ihr Geliebter in einem Kampf gefallen schien. Und sie sei dann versteinert worden. So besteht der Berg aus drei Gipfeln, die Kopf, Brust und Knie der Frau darstellen sollen. Der niedrige Gipfel, der das Knie darstellt, ist immerhin 5.100 Meter hoch. Dort spürt man, wie die Luft dünn wird. Wir machten uns mit einer kleinen Gruppe schon früh auf den Weg.

Wir wollten es wenigstens bis zum „Knie“ (der „rodilla“) schaffen. Ich war von Anfang an müde und ging bald allein, die anderen vorneweg. Ich kämpfte mich Abschnitt für Abschnitt voran. 4.000 Meter, 4.500 Meter, 4.700 Meter. Der Schnee begann. Ich ging langsam und legte alle paar Minuten eine Pause ein. Die Luft ist wirklich dünn da oben. Bei 4.800 Metern kam der Nebel. Es wurde kalt und unangenehm. Aber vor allem: Ich sah den Gipfel nicht mehr. Und mit dem Verschwinden des Zieles schwand auch die Kraft. Ich setzte mich müde auf einen Felsen. Der Blick nach oben ermutigte mich nicht mehr. Nur Nebel. Irgendwann stand ich auf und begann den Abstieg. Kein Ziel, keine Kraft. Das klingt natürlich noch sehr menschlich. Und manchmal sind es menschliche Bilder, die uns helfen, die unsere Familie erneuern, oder die Bedingungen am Arbeitsplatz. Wieviel mehr, wenn dieses innere Bild im Gebet gewachsen ist. Wenn das Bild der Zukunft im Kontakt mit Gott entstanden ist; ja vielleicht sogar von Gott gegeben ist. 

„I have a dream“ – ein klares Bild gibt Kraft

Martin Luther King hatte einen Traum (eine „Vision“). Er sprach darüber. Mit leidenschaflichen Worten malte er ein überaus klares Bild von der Zukunft. Er sah vor sich schwarze und weiße Kinder, die gemeinsam auf einem Spiel-platz miteinander schaukelten, im Sandkasten spielten. Er sah Schulen und Universitäten, an denen schwarze und weiße Amerikaner miteinander lernten, forschten und studierten. Er hatte klare Zukunftsbilder von einem Amerika, in dem Menschen unterschiedlicher Ethnien und Religionen friedlich und gleich-berechtigt zusammenleben. Diese Bilder spornten ihn an. Sie waren noch keine Wirklichkeit. Es waren Bilder – der Zukunft. Dafür gab er sein Leben. Und sein Bild (seine Vision) wurde Wirklichkeit.

Wenn ich an meine Pastoralarbeit als Priester denke, dann sehe ich vor meinem inneren Auge vor allem viele, sehr viele fröhliche Kinder; Kinder mit ihren glücklichen Eltern; Jugendliche voller Hoffnung. Sie loben gemeinsam Gott, sind „ein Herz und eine Seele“ (vgl.Apg 4,32) und Jesus geht „inmitten“ der Kinder und Erwachsenen umher. Es werden immer mehr, weil die Freude aller überfließt und auch andere ansteckt.

Das ist eines meiner Bilder, das mich antreibt. Mein inneres Bild ist noch nicht Wirklichkeit. Es ist ein Zukunftsbild. Ihm will ich näherkommen. Und daher muss ich etwas ändern. Wenn sich etwas ändern soll, dann müssen auch Menschen sich ändern. Sie müssen mitmachen, sich in Bewegung setzen. Hierin liegt ein Problem. Menschen ändern sich nicht besonders gern. Der Status quo ist bequem, bekannt und sicher. Sich ändern bedeutet den sicheren Hafen verlassen, in gefahrenvolle Wasser rudern, kämpfen und sich mühen.

Um Menschen dazu zu bewegen, muss man ihnen einen guten Grund dafür geben. Ein Grund kann eine neue und positive Perspektive sein: Die Zukunft wird besser als die Gegenwart. Die Pfarrgemeinde in drei Jahren kann besser sein, als sie es jetzt ist. Unsere Gemeinschaft wird in einem Jahr stärker sein als heute. Und daher lohnt es sich, auf dieses Ziel zuzusteuern. Wer dieses Bild glaubwürdig und wiederholt lebendig und konkret vermittelt, der wird spüren, dass Menschen mitmachen wollen. Dieser Mensch wird beginnen, andere zu leiten. Denn Menschen brauchen und wollen Motivation. Und die kommt von einem Bild einer besseren Zukunft.

Begeisterung kann oberflächlich sein. Leidenschaft ist tief. Und das ist es, was ein klares Bild der Zukunft innerlich auslöst: Leidenschaft. Wenn das Bild der besseren Zukunft im Gebet erwachsen ist und auf festen Tugenden fußt, dann löst es eine beständige und echte Leidenschaft des Glaubens aus. Ich spreche hier nicht von dem überfließenden Gefühl, das entsteht, wenn jemand an einem tollen Kongress, einem Vortrag oder einem Gebetstreffen mit mehreren Tausend Menschen teilgenommen hat. Das ist keine Vision, sondern eine Emotion. Und die vergeht meist so schnell, wie sie gekommen ist. Ich spreche von einer Leidenschaft, die eine Kraft Gottes im Innern ist, die nicht mehr loslässt und kraftvoll anschiebt, sich und andere in Bewegung zu setzen, damit sich etwas ändert. Diese Leidenschaft ist wichtig, notwendig, unabdingbar.

Ich sehe in unserer Kirche noch zu wenig echte Leidenschaft. Vieles ist mühsam und schwerfällig. Der Heilige Geist jedoch erneuert, gibt Kraft, gibt Freude und Energie. Ich kenne eine Frau Mitte 70, die brennt so sehr für Mädchen und junge Frauen, die durch traurige oder unglückliche Lebensumstände in ihrer Schwangerschaft alleingelassen wurden, dass diese Dame im fortgeschrittenen Alter immer noch voller Kraft und Freude ist und alle Hebel in Bewegung setzt, um diesen Mädchen zu helfen. Göttliche Leidenschaft. Es ist nicht schwer, sich zu überlegen, welches Bild der Zukunft diese Frau in sich trägt. Und darum setzt sie sich ein. Oder denken wir nur an eine Mutter Teresa von Kalkutta, die bis zur Selbsthingabe im hohen Alter sich verausgabt hat – voller Leidenschaft. Über alle Jahre hinweg war ihre Vision klar und hat ihr so viel Kraft von innen gegeben: Jesus in den Armen zu trinken geben („Mich dürstet“).

Wir haben im Regnum Christi vor einigen Monaten mit einer 12-köpfgen Gruppe junger Erwachsener versucht, die Vision für unser Leben zu entdecken und freizusetzen. Was für ein grandioses Erlebnis. Zuerst einmal mussten wir lernen, was eine Vision ist: „Ein Bild – von der Zukunft –, das Leidenschaft auslöst.“ Nun haben sich alle persönlich daran gemacht, für ihr eigenes Leben dieses Bild zu fnden. War nicht so  leicht. Negative und entmutigende Gedanken wollten dieses Bild schnell wieder kaputt machen oder unterdrücken: „Ach, ich doch nicht.“ „Das ist viel zu groß für mich.“ „Das schaffe ich doch eh nie.“ Doch sobald diese negativen Stimmen schwiegen, fanden wir Mut, die innere Vision (den inneren Traum, der schon lange da ist) zuzulassen. Plötzlich war in der Gruppe eine Entschlossenheit, dass wir es selber gar nicht fassen konnten – unbändige Kraft, Lebensträume, Zukunfsbilder, die innere Leidenschaf frei machten. Wie kraftvoll eine Gruppe werden kann, wenn die Vision ins Spiel kommt, ist faszinierend.

Gott ist ein Gott der Zukunft

Welches Bild von der Zukunft der Kirche haben wir? Haben wir ein Bild? Was löst es aus? Frustration oder Ärger? Trauer oder Wut? Erfahrung von Machtlosigkeit,  Vorwürfen gegen Bischöfe, Priester, die „anderen“? Enttäuschung? Oder ist es ein Bild, das lebendig macht, das Freude erweckt? Ein Bild, das begeistert und antreibt? Sind Sie im Pfarrgemeinderat? Haben Sie eine Vision – ein Bild von der Zukunf der Gemeinde, das Leidenschaft freisetzt? Sind Sie im Pastoralrat? Haben Sie eine Vision? Haben Sie eine Familie? Welche Vision haben Sie dafür? Wie soll die Zukunft aussehen? Ich lade alle ein, jede/n für sich und als Gruppen, sich der Frage nach dem Bild von der Zukunft zu stellen. Wenn die Vision klar ist, wenn sie Leidenschaft weckt, wenn sie etwas freisetzt, dann kann die Kirche erneuert werden. Es ist klar: Gott schenkt Menschen diese Bilder, diese Visionen. Sein Widersacher möchte sie sofort wieder zerstören (vgl. das Gleichnis von der Saat, die die Vögel rauben, Mt 13,4.19). Madig reden, kritisch sein, es besser wissen, nörgeln, aber nichts tun… Alles das raubt Vision. Auch in uns selber spüren wir diesen Widersacher. Die entmutigenden, kraftlos machenden Bilder der Zukunft kommen nicht von Gott! Gott ist ein Gott der Zukunft. Er richtet „die zerfallene Hütte Davids“ (Amos 9,11) wieder auf. Ich bin sicher, dass es unter uns Menschen gibt, die sich ihre Zukunft besser vorstellen und eine klare Vision davon haben. Gott gibt Visionen. Der Heilige Geist ist lebendig; und Jesus will dieser Welt seine Erlösung schenken. Daher dürfen wir getrost und treu diese Visionen in unserem Leben oder im Leben unserer Gruppierung hegen, mitteilen und umsetzen.

Was war nochmal eineVision? „Ein von Gott geschenktes inneres Bild von der Zukunft, das Leidenschaft in Menschen weckt.“