Online-Magazin des Regnum Christi und der Legionäre Christi

Was Neuevangelisierung mit Zähneputzen zu tun hat

Das Geld hätten sie sich sparen können. Und die Zeit auch! Eine Gruppe hochkarätiger amerikanischer Wissenschaftler um Dr. Christopher Peterson (Michigan) hat drei Jahre lang intensiv geforscht, um die eine Frage zu beantworten: „Was ist gut für den Menschen? Was macht ihn glücklich?“ Die Antwort ist schockierend einfach – und nun sozialwissenschaftlich belegt: „Den Menschen macht glücklich, dass er tugendhaft lebt.“ Die Forschungserkenntnisse des Gründers der „positiven Psychologie“, Martin E. P. Seligmann (Autor des Bestsellers „Der Glücksfaktor – Warum Optimisten länger leben“) werfen Licht auf ein Thema, das heute oft unbeachtet bleibt. Es klingt nicht modern, eher verstaubt, altmodisch, ist aber topaktuell: Tugenden!

Je mehr ich darüber nachdenke, desto klarer wird mir, dass Neuevangelisierung ohne tugendhafte Menschen nur „Nebel und Rauch“ ist, der beim ersten Wind hinweggefegt wird. Warum? Weil nur die Tugenden (seien es die natürlichen oder die übernatürlichen) beständige und feste Neigungen sind, die in aller Wechselhaftigkeit des Lebens stabil und fest bleiben. Das erkläre ich gleich näher.

Tugend – Eine innere Kraft

Zuerst: Was verbirgt sich hinter dem verstaubten Wort „Tugend“? Im Deutschen leitet es sich von „taugen“ her. „Man taugt zu etwas“ bedeutet einfach, dass man etwas gut kann oder gut darin werden kann. Das lateinische Pendant zum deutschen Tugend, „virtus“, bedeutet „Kraft“ (darin steckt auch das Wort „vir“ für „Mann“). Tugendhafte Menschen sind also solche, die eine innere Kraft in sich tragen, die sie befähigt, zu etwas zu taugen. Und wozu? Zu einem gelungenen, zu einem guten Leben.

Zwei klassische Definitionen von Tugend lauten: „Die Leichtigkeit im Tun des Guten“ und „Gewohnheiten, die uns als Menschen gut machen“. In beidem finden wir die Begriffe „gut“ und „Gewohnheit (bzw. Leichtigkeit)“.

Lassen Sie mich das ein wenig ausführen, bevor wir zum eigentlichen Thema „Neuevangelisierung und Tugenden“ kommen.

Wann sprechen wir von einer Gewohnheit? Ganz einfach: Wenn wir etwas so oft getan haben, dass es uns leicht fällt und wir nicht mehr darüber nachdenken müssen. Zähneputzen zum Beispiel. Wir haben das so oft getan, dass wir nicht mehr darüber nachdenken, was wir da tun; es läuft automatisch, es ist uns zur Gewohnheit geworden. Tugenden sind aber mehr als nur Gewohnheiten. Sie machen uns außerdem gut. Sie geben uns Leichtigkeit im Tun des Guten. Tugenden beziehen sich also immer auf die Qualität eines guten Menschen.

Gute und schlechte Gewohnheiten

Nun, das sieht aber jeder anders, werden manche einwerfen. Nein, das sehen wir eigentlich so ziemlich alle gleich, antworte ich. Ist ein notorischer Lügner eher ein guter oder eher ein schlechter Mensch? Oder einer, der oft stiehlt? Oder einer, der nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht ist und andere ausnutzt? Klar, einen Lügner, Dieb oder Egoisten bezeichnen wir nicht als „guten Menschen“. Andere Frage: Ist ein Klaviervirtuose ein eher guter oder eher schlechter Mensch? Nun, es kann durchaus sehr böse Menschen geben (vielleicht sogar Schwerverbrecher), die trotzdem gut Klavier spielen. Es gibt also eine Unterschied in den Gewohnheiten: Manche machen uns zu besseren Menschen, machen uns gut, andere nicht. Tugenden sind all jene Gewohnheiten, die uns als Mensch gut machen. Ehrlichkeit, Großzügigkeit, Respekt, Bescheidenheit, Dankbarkeit, Mut, Freude, Ausgeglichenheit, Geduld… Eine ganze Liste dieser Gewohnheiten, die uns mit Leichtigkeit das Gute tun lassen, könnten wir anführen.

Tugendhaft ist der Mensch dann geworden, wenn er mit Leichtigkeit geduldig sein kann; wenn er spontan und natürlich und dauerhaft großzügig oder ehrlich ist, wenn er grundsätzlich dankbar ist. Tugendhaft ist ein Mensch, wenn er durch Gewohnheit mutig geworden ist und sich nicht um die Anerkennung der anderen schert. Tugendhaft ist ein Mensch dann, wenn er mit Freude und Leichtigkeit dankbar, gläubig, liebend, hoffnungsvoll, bescheiden, tapfer, höflich, klug, gerecht usw. handelt.

Wo in der Neuevangelisierung ist Tugendhaftigkeit besonders notwendig?

Nach meiner Erfahrung sowohl auf der Seite derer, die evangelisieren wollen als auch auf der Seite derer, die sich bereit machen, das Evangelium anzunehmen (wobei jene, die evangelisieren, auch immer gleichzeitig evangelisiert werden).

Zuerst einmal bedürfen alle, die das Evangelium weitergeben wollen, einiger Tugenden in ihrer Beziehung zu Gott: Bescheidenheit (Demut), Durchhaltevermögen (um im Gebet nicht aufzugeben), Glaube (Gottvertrauen, um nicht im Ego verhaftet zu bleiben), Tapferkeit (um den erkannten Willen Gottes auch umzusetzen). Aber auch im Umgang mit den Menschen: ein liebevolles Herz (oder die Tugend der Güte bzw. Sanftmut), entschiedene Selbstlosigkeit, die mehr das Wohl des Gegenübers sucht als das eigene; Mut, um überhaupt Themen wie Gott, Glaube, Kirche usw. ins Gespräch zu bringen. Ehrliche Nächstenliebe, um weiter zu geben, obwohl man nicht positiv aufgenommen wird; Wahrhaftigkeit, um nicht aufgrund von Moden, subjektiven Meinungen, falscher „political correctness“ faule Kompromisse einzugehen. Evangelisierung bedarf auch der Treue, die sich nicht vom Weg abbringen lässt; einer inneren Freude, die uns nur Gott gibt und die nach außen strahlt; ehrlichen Respekts vor der Freiheit und Entscheidung des anderen und ebenso ehrlicher Liebe, die das wahre Wohl des Nächsten sucht und immer wieder konkrete Schritte unternimmt.

Aber auch die Menschen, denen wir einen Durchgang zu Gott ermöglichen wollen, können sich ohne Tugenden nicht auf den Weg machen und auf Dauer bestehen. Daher ist es so notwendig, dass auch sie Tugenden heranbilden. Es beginnt bei einer gewissen Beständigkeit, ohne die kein geistliches Leben möglich ist; mit einer gewissen inneren Disziplin mit sich selber und seinem Alltag. Dann sind Tugenden wie die Suche nach der Wahrheit, Großzügigkeit, Selbstlosigkeit, Klugheit im Blick auf das Leben, Entscheidungsfähigkeit und Treue, Willenskraft und Gewissensklarheit notwendig. Denn ohne diese Tugenden ist eine beständige positive Arbeit im Bereich des Glaubenslebens und der Beziehung zu Gott nicht möglich.

In diesem Bereich stoßen wir in der Evangelisierung aber auch an Grenzen. Ein theologischer Grundsatz lautet: „gratia supponit naturam“ (Gnade setzt die Natur voraus); das bedeutet, das Wirken Gottes im Menschen (gratia) setzt eine menschliche Grundlage voraus, auf der es aufsetzen kann (naturam). Um es anhand von Beispielen zu sagen: Ein disziplinierter Mensch kann eher ein solides Gebetsleben führen als ein unbeständiger. Ein wahrhaftiger Mensch kann eher den Willen Gottes im Gebet vernehmen als ein unehrlicher. Ein willensstarker Mensch ist eher fähig, diesen Willen dann kraftvoll im Alltag zu leben als ein willensschwacher. Das ist katholische Spiritualität. Hüten wir uns deshalb vor Übertreibungen auf der einen wie der anderen Seite: Einerseits, dass allein Umstrukturierungen, Normen und Gesetze das Heil der Kirche wären. Andererseits, dass der Geist Gottes alles von alleine macht. Beides ist auf seine Weise irrig und gefährlich. Und vermeiden wir auch die falsche Vorstellung einer lupenreinen Trennung der beiden Bereiche, denn es gibt keinen „gnadenfreien Raum“, auch die Natur und das menschliche Bemühen sind immer schon ein Geschenk der Liebe Gottes und ein Wirken seines Geistes.

Bleibt eine letzte Frage: Wie können wir Tugenden in unserem Leben erlangen. Ganz einfach: Indem wir sie einüben! Hundertmal, tausendmal, zehntausendmal sich bemühen, tapfer, klug, ehrlich, bescheiden, rein, liebevoll, geduldig, großzügig, glaubensstark, weise, gerecht, mild, stark… zu sein. Alle Menschen können mit Gottes Hilfe viele Tugenden erlernen. Das ist good news. Es ist ein bisschen wie Zähneputzen: Am besten fängst du heute damit an.

 

 

P. Klaus Einsle LC