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Barmherzigkeit und Gerechtigkeit – Ein Widerspruch?

Im Dezember 2015 rief Papst Franziskus das Heilige Jahr der Barmherzigkeit aus. Es endet am 20. November 2016, dem Christkönigsfest. Warum diese Betonung der Barmherzigkeit? Und in welchem Bezug steht sie zur Gerechtigkeit Gottes und zum persönlichen Gewissen?

Die Barmherzigkeit Gottes ist ein zentraler Inhalt der jüdisch-christlichen Offenbarung. Schon das Alte Testament bezeugt: „Der Herr ist barmherzig und gnädig, langmütig und reich an Güte“ (Ps 103,8, vgl. auch 1 Chr 30,9; Neh 9,17), und Jesus fordert seine Jünger auf: „Seid barmherzig, wie es auch euer Vater ist!“ (Lk 6,36). Daher möchte Papst Franziskus im außerordentlichen Heiligen Jahr „das Geheimnis der Barmherzigkeit neu betrachten“ (Misericordiae Vultus, 2). In der Verkündigungsbulle Misercoridae Vultus (MV) sowie dem Postsynodalen Schreiben Amoris laetita (AL) gibt der Heilige Vater dazu zahlreiche Impulse.

Die Betonung der Barmherzigkeit Gottes erscheint dem heutigen Menschen zunächst als tröstliches Gegenbild zu einem strengen und zornigen Gott, der kleinlich und penibel auf die Einhaltung von Gesetzen achtet und bei deren Übertretung mit schrecklichen Strafen und der ewigen Verdammnis droht. Insofern kann Barmherzigkeit einerseits als Befreiung von einem engstirnigen Legalismus verstanden werden. Andererseits wird damit auch leicht die Relativierung des Glaubens und seiner Anforderungen verbunden: Lohnen sich dann überhaupt noch Eifer und Treue, wenn Gott letztlich sowieso barmherzig ist? Muss man den Glauben mit seinen oft fordernden und unbequemen Konsequenzen dann vielleicht doch nicht mehr so genau nehmen? – Konkret gefragt: Hat ein barmherziger Gott kein Verständnis dafür, dass ich sonntags lieber ausschlafe, anstatt zur Messe zu gehen? Muss ich mich wirklich an die kirchliche Morallehre halten, oder reicht es, dass ich mein Verhalten irgendwie mit meinem persönlichen Gewissen vereinbaren kann? Wie ist diese göttliche Barmherzigkeit zu verstehen? Werden damit objektive Normen und göttliche Gerechtigkeit aufgehoben oder relativiert?

Schon die Evangelien greifen diese Problematik auf: Der ältere Sohn fühlt sich ungerecht behandelt, als der barmherzige Vater den zurückgekehrten jüngeren Bruder festlich aufnimmt (vgl. Lk 15,30). Die Arbeiter, die den ganzen Tag im Weinberg geschuftet haben, beschweren sich, dass sie jenen gleichgestellt werden, die nur eine Stunde arbeiten mussten (vgl. Mt 20,12). Jesus selbst scheint die Gerechten hintanzusetzen, wenn er erklärt: „Ich bin gekommen, um die Sünder zu rufen, nicht die Gerechten“ (Mt 9,13).

Zwei Beter

Seine Lehre erklärt Jesus im Vergleich von zwei Betern (Lk 18,9-14): Während der Pharisäer meint, er könne Gott durch seine guten Taten beeindrucken und sich Gottes Liebe verdienen, bekennt sich der Zöllner als Sünder und bittet um Gnade. Der Zollpächter begreift, dass er Gott gegenüber im Minus steht und sich nicht auf Verdienste berufen kann. Im Hinblick auf die Einstellung des Pharisäers beklagt Paulus: „Da sie die Gerechtigkeit Gottes verkannten und ihre eigene aufrichten wollten, haben sie sich der Gerechtigkeit Gottes nicht unterworfen“ (Röm 10,3). Wenn nun Jesus erklärt, dass der Zöllner als Gerechter nach Hause geht, dann verdankt dieser seine Gerechtigkeit nicht den Werken, sondern der Barmherzigkeit Gottes.

Perspektive des Kreuzes

Somit ist die Barmherzigkeit grundlegend für ein rechtes Verständnis der Gerechtigkeit, die Jesus Christus gebracht hat: Hätte sich der Mensch selbst erlösen – biblisch „gerecht machen“ – können, dann wären die Menschwerdung und das Kreuzesopfer Christi überflüssig. Daher gilt: Christus ist das Ende des Gesetzes, und jeder, der an ihn glaubt, wird gerecht“ (Röm 10,4). Papst Franziskus bemerkt dazu: „Diese Gerechtigkeit Gottes ist die Barmherzigkeit, die allen als Gnade geschenkt wird kraft des Todes und der Auferstehung Jesu Christi. Das Kreuz ist also das Urteil Gottes über uns alle und die Welt, denn es schenkt uns die Gewissheit der Liebe und des neuen Lebens“ (MV, 21).

Der Blick auf das Kreuz zeigt: Die göttliche Barmherzigkeit ist nicht billig. Sünde und Ungerechtigkeit werden in keiner Weise  beschönigt, sondern zeigen sich gerade im Leiden Christi am Kreuz auf erschütternde Weise. Im Sühneleiden Christi offenbart Gott seine eigentliche Größe, indem er die menschliche Bosheit mit seiner barmherzigen Liebe überwindet.

Barmherzigkeit und Wahrheit

Gerade am Kreuz Christi offenbart sich die Wahrheit über Gott und den Menschen. Somit versteckt die wahre Barmherzigkeit nicht die Wahrheit von Glauben und Moral, so als ob diese für den Menschen eine nur schwer zu ertragende Zumutung und daher deren Ignoranz die eigentliche Befreiung wäre. Nach den Worten Christi ist die Kenntnis der Wahrheit für den Menschen gut, und die Hinführung zur Wahrheit somit ein Erfordernis der wahren Liebe: „Dann werdet ihr die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch befreien“ (Joh 8,32).

Wenn jemand nicht weiß, dass ein Stück Kuchen, das ihn anlacht, vergiftet ist, kann er es zwar genüsslich ohne Sorgen essen, doch wird das Gift trotzdem die nicht gewünschte Wirkung haben. Daher wäre es gut gewesen zu wissen, dass der Kuchen vergiftet ist, und für den darum Wissenden eine Pflicht, darauf hinzuweisen. Barmherzig wäre nicht derjenige, der diese unangenehme Wahrheit verschweigt, sondern derjenige, der seine Erkenntnis mitteilt, um so eine wirklich freie und informierte Entscheidung zu ermöglichen. Daher gilt: „Niemals kann von den Erfordernissen der Wahrheit und der Liebe des Evangeliums abgesehen werden“ (AL, 300).

Das Festhalten an der Wahrheit darf jedoch nicht in einem kleinlichen Moralismus enden, sondern muss zur Fülle der Wahrheit Gottes führen: „Wir stellen der Barmherzigkeit so viele Bedingungen, dass wir sie gleichsam aushöhlen und sie um ihren konkreten Sinn und ihre reale Bedeutung bringen, und das ist die übelste Weise, das Evangelium zu verflüssigen. Es ist zum Beispiel wahr, dass die Barmherzigkeit die Gerechtigkeit und die Wahrheit nicht ausschließt, vor allem aber müssen wir erklären, dass die Barmherzigkeit die Fülle der Gerechtigkeit und die leuchtendste Bekundung der Wahrheit Gottes ist“ (AL, 311).

Barmherzigkeit und Gesetz

In diesem Kontext beinhaltet die göttliche Barmherzigkeit keine Aufhebung oder Abschwächung des Gesetzes. Jesus erklärt: „Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen“ (Mt 5,17). Eine Anpassung der Lehre an die menschliche Schwäche und Bequemlichkeit ist somit nicht die Absicht Jesu: „Lauheit, jegliche Form von Relativismus oder übertriebener Respekt im Augenblick des Vorlegens wären ein Mangel an Treue gegenüber dem Evangelium und auch ein Mangel an Liebe […] Außergewöhnliche Situationen zu verstehen bedeutet niemals, das Licht des vollkommeneren Ideals zu verdunkeln, und auch nicht, weniger anzuempfehlen als das, was Jesus dem Menschen anbietet“ (AL,  307).

Gleichzeitig überwindet die Haltung Jesu einen pharisäischen Legalismus, der den Menschen und das eigentliche Anliegen Gottes aus dem Blick verliert: „Es ist wahr, dass die allgemeinen Normen ein Gut darstellen, das man niemals außer Acht lassen oder vernachlässigen darf, doch in ihren Formulierungen können sie unmöglich alle Sondersituationen umfassen. Zugleich muss gesagt werden, dass genau aus diesem Grund das, was Teil einer praktischen Unterscheidung angesichts einer Sondersituation ist, nicht in den Rang einer Norm erhoben werden kann. Das gäbe nicht nur Anlass zu einer unerträglichen Kasuistik, sondern würde die Werte, die mit besonderer Sorgfalt bewahrt werden müssen, in Gefahr bringen“ (AL, 304).

Konkret kann das bedeuten, dass jemand aufgrund einer Krankheit oder einem anderen schwer wiegenden Grund nicht die Sonntagsmesse besuchen kann – und daher auch nicht dazu verpflichtet ist – ohne dass dadurch das Gebot der Sonntagspflicht aufgehoben oder verwässert wäre. Die Pastoral, die darauf schaut, was für den konkreten Menschen möglich ist – niemand ist zum Unmöglichen verpflichtet –, widerspricht oder ändert somit nicht die Lehre, die erklärt, was richtig und was falsch ist.

Diese Perspektive überwindet sowohl einen engherzigen Legalismus als auch ein falsches Verständnis von Barmherzigkeit, das die Sünde und Bosheit des Menschen verharmlost und davon ausgeht, Gott würde alles abnicken und durchwinken, und am Ende kämen sowieso alle in den Himmel. Doch genau diese Ausgeglichenheit vermisst der Heilige Vater in der öffentlichen Diskussion: „Die Debatten, wie sie in den Medien oder in Veröffentlichungen und auch unter kirchlichen Amtsträgern geführt werden, reichen von einem ungezügelten Verlangen, ohne ausreichende Reflexion oder Begründung alles zu verändern, bis zu der Einstellung, alles durch die Anwendung genereller Regelungen oder durch die Herleitung übertriebener Schlussfolgerungen aus einigen theologischen Überlegungen lösen zu wollen“ (AL, 2).

Beispiel Schule

Eine Barmherzigkeit, die nicht gerecht ist, ist auch nicht wirklich barmherzig, ebenso wie auch eine Gerechtigkeit, die nicht barmherzig ist, nicht wirklich gerecht sein kann. Ein Lehrer, der allen Schülern leistungsunabhängig eine Eins gibt, ist nicht wirklich barmherzig, sondern macht die Note bedeutungslos. Ebenso bewertet ein Pädagoge nicht wirklich gerecht, wenn er einen krankheitsbedingten Ausfall eines Schülers nicht berücksichtigt. Ohne die Gerechtigkeit wird die Barmherzigkeit lieblos und gleichgültig, und ohne die Barmherzigkeit wird die Gerechtigkeit hart und bitter.

Barmherzigkeit und Umkehr

Die Barmherzigkeit Gottes wirkt nicht automatisch oder magisch, sie braucht eine freie Annahme des Menschen, die sich in Reue und Umkehr ausdrücken. Das Evangelium hat einige eindrucksvolle Zeugnisse davon überliefert: „Gott, sei mir Sünder gnädig!“ (Lk 18,13); „Herr, Sohn Davids, hab Erbarmen mit uns!“ (Mt 20,31); gerade am Kreuz bittet der gute Schächer: „Jesus, denk an mich, wenn du in dein Reich kommst!“ (Lk 23,42). Bevor das Fest der Vergebung stattfinden kann, muss der verlorene Sohn seine Fehler bereuen, den Weg zurück zum Vater gehen und seine Schuld bekennen (vgl. Lk 15,21). Ohne diese Schritte entspräche die Barmherzigkeit nicht der Würde und Freiheit des Menschen. Die Barmherzigkeit steht also nicht im Gegensatz zur Gerechtigkeit. Sie drückt vielmehr die Haltung Gottes gegenüber dem Sünder aus, dem er eine weitere Möglichkeit zur Reue, zur Umkehr und zum Glauben anbietet“ (MV, 21). Die Barmherzigkeit Gottes beinhaltet somit keine Gleichgültigkeit gegenüber dem menschlichen Handeln, sondern erfordert einen inneren Weg von Einsicht, Umdenken und Umkehr.

Die beinhaltet jedoch eine gründliche Gewissenserforschung sowie die rechte Gewissensbildung. Dabei darf das Gewissen mit einer bloß subjektiven Meinung verwechselt werden: „Im Grunde ist es heute leicht, die echte Freiheit mit der Vorstellung zu verwechseln, dass jeder urteilen mag, wie er meint, als gebe es jenseits der einzelnen Menschen keine Wahrheiten, Werte und Grundsätze, die uns orientieren, als sei alles gleich und müsse alles erlaubt sein“ (AL, 34). Das christliche Gewissen hingegen richtet sich nach dem Evangelium und der Lehre der Kirche. Wenn es erkennt, dass in es gewissen Situationen „noch nicht völlig dem objektiven Ideal entspricht, […] muss es offen bleiben für neue Phasen des Wachstums und für neue Entscheidungen, die erlauben, das Ideal auf vollkommenere Weise zu verwirklichen“ (AL, 303). In diesem Sinn gilt für die Kirche: „Wir sind berufen, die Gewissen zu bilden, nicht aber dazu, den Anspruch zu erheben, sie zu ersetzen“ (AL, 37).

Reue und Umkehr sind jedoch keine bloße Kopfsache, sondern fordern den Glauben und den ganzen Menschen. Sie wachsen im Blick und im Vertrauen auf den barmherzigen Vater, der den Heimkommenden sehnsüchtig erwartet und liebevoll aufnimmt: „Barmherzigkeit ist der Weg, der Gott und Mensch vereinigt, denn sie öffnet das Herz für die Hoffnung, dass wir, trotz unserer Begrenztheit aufgrund unserer Schuld, für immer geliebt sind“ (MV, 2).

Wahrheit und Liebe

Barmherzigkeit und Gerechtigkeit dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden, weil es letztlich um das Verhältnis von Wahrheit und Liebe geht, die zusammen gehören und nicht ohne einander bestehen können: Barmherzigkeit darf nicht ungerecht sein, weil es keine Liebe ohne Wahrheit gibt, und Gerechtigkeit darf nicht unbarmherzig werden, weil keine Wahrheit ohne Liebe bestehen kann. Gott ist die Fülle von Wahrheit und Liebe. Daher ist Gott zugleich gerecht und barmherzig. „Es handelt sich dabei nicht um zwei gegensätzliche Aspekte, sondern um zwei Dimensionen einer einzigen Wirklichkeit, die sich fortschreitend entwickelt, bis sie ihren Höhepunkt in der Fülle der Liebe erreicht hat. […] Die Gerechtigkeit alleine genügt nicht und die Erfahrung lehrt uns, dass wer nur an sie appelliert, Gefahr läuft, sie sogar zu zerstören. Darum überbietet Gott die Gerechtigkeit mit der Barmherzigkeit und der Vergebung. Das bedeutet keinesfalls, die Gerechtigkeit unterzubewerten oder sie überflüssig zu machen. Ganz im Gegenteil. Wer einen Fehler begeht, muss die Strafe verbüßen. Aber dies ist nicht der Endpunkt, sondern der Anfang der Bekehrung, in der man dann die Zärtlichkeit der Vergebung erfährt. Gott lehnt die Gerechtigkeit nicht ab. Er stellt sie aber in einen größeren Zusammenhang und geht über sie hinaus, so dass man die Liebe erfährt, die die Grundlage der wahren Gerechtigkeit ist“ (MV, 20-21).

Weg der Barmherzigkeit

Im Gleichnis vom barmherzigen Samariter zeigt Jesus, dass die Barmherzigkeit die Situation des Überfallenen nicht beschönigt oder verharmlost – der Verletzte ist nicht nur Opfer der Räuber, sondern ebenso auch seines eigenen Leichtsinns. Die Barmherzigkeit überwindet die Gleichgültigkeit und bietet selbstlos die nötige Hilfe an. Die Heilung geschieht nicht durch ein plötzliches Wunder, sondern ist ein Prozess, der Zeit und weitere Unterstützung braucht.

Die Kirchenväter haben im barmherzigen Samariter Christus selbst gesehen, der gleichsam als Fremder in die Welt und das menschliche Elend hinabgestiegen ist, um in den Sakramenten die Wunden zu verbinden und den Menschen in die sichere Herberge der Kirche zu bringen, um dort den Prozess der Heilung fortzusetzen. Mit dieser Barmherzigkeit hat Christus eine tiefere Gerechtigkeit erschlossen und fordert dazu auf, auf diesem Weg nicht nur Empfänger, sondern auch Vermittler der Barmherzigkeit zu werden: „Es gibt Augenblicke, in denen wir aufgerufen sind, in ganz besonderer Weise den Blick auf die Barmherzigkeit zu richten und dabei selbst zum wirkungsvollen Zeichen des Handelns des Vaters zu werden“ (MV, 3). Dazu will das Heilige Jahr der Barmherzigkeit ermutigen.

Pater Martin Baranowski LC

Über den Autor

P. Martin trat 1995 ins Noviziat der Legionäre Christi ein, legte 1997 seine erste Profess ab und wurde 2009 in Rom zum Priester geweiht. Er hat Philosophie und Theologie in Rom studiert. Seit seiner Priesterweihte arbeitet er vor allem in der Kinder- und Jugendpastoral seiner Ordensgemeinschaft in Bayern.